Für ihr Kita-Projekt setzten Freiort Architekten auf Vernetzung und Vorfertigung und realisierten ein großes Projekt mit kleinen Partnern für noch kleinere Nutzer. Die heißen übrigens „Stadtspatzen“ und haben nun ein ganz besonderes, naturnahes, ruhiges und sicheres Spatzennest in einem Holzgebäude mit Mineralwolle, mitten in Wismar.
Gute Architektur beeinflusst unsere Wahrnehmung und unser Wohlbefinden positiv. Das wissen Architekturaffine längst, und für alle anderen gibt es jetzt eine Studie des Max-Planck-Institutes, erarbeitet von einem interdisziplinären und internationalen Forschungsteam aus den Neurowissenschaften, der Stadtplanung und Architektur. Maßgeblich daran beteiligt war die Wissenschaftlerin Aenne Brielmann, die zur biologischen Kybernetik forscht und sich mit der Wirkung von Gestaltung auf das Gehirn beschäftigt. Sie weiß: „Schon bei Kleinstkindern können wir feststellen, dass sie ihren Blick auf angenehme Gegenstände lenken und sogar ihren Körper auf diese Objekte ausrichten.” Aber was empfinden wir als angenehm? Auch das weiß die Studie: naturnahe und fraktale Architekturen und Oberflächen.
Das alles mussten Anja Graeff und Dörte Joost, Gründerinnen und Geschäftsführerinnen der Wismarer Bildungseinrichtung Lernwert, schon längst geahnt haben, als sie im Osten Wismars ein Bildungsgebäude für ihre Einrichtung planten. Bei Lernwert steht die Wertschätzung der Natur und der natürlichen Ressourcen im Zentrum der Pädagogik, weshalb sich die Einrichtung nach BNE, Bildung nachhaltige Entwicklung, zertifizieren ließ. Der Neubau der Kita sollte daher ebenso nachhaltig, naturnah und hochwertig gestaltet sein.
Graeff und Joost suchten sich für das Bauvorhaben einen erfahrenen lokalen Investor, Hochbau Krentz und Müller. Der wiederum beauftragte die Freiort Architekten Cindy Kruske und Christian Meißner mit der Planung des Neubaus und mit einem umfangreichen Raumprogramm: Es brauchte eine Kita für mehrere Krippen- und Kindergartengruppen, eine Schule für angehende Erziehende sowie eine Cafeteria, flexibel nutzbare Veranstaltungsräume und vermietbare Praxis- und Büroräume. Zu diesem sehr komplexen und großen Raumprogramm mit vielen und teils sehr speziellen Anforderungen kam der Wunsch, dass die Architektur nachhaltig in Bezug auf Ökologie und Bildung sein sollte. Cindy Kruske sagt: „Da lag Holz als Baumaterial natürlich für alle Beteiligten direkt auf der Hand.“
Den Architekten gelang es, die vielen Bauanforderungen zu erfüllen und mit 10.800 m³ eines der größten Holzgebäude an der deutschen Ostseeküste zu bauen. Darüber hinaus erhielt ihr Projekt den Holzbauplus-Preis 2020. Dass das kleine Architekturbüro den Umfang des Projektes so gut stemmen konnte und dabei im Zeitplan blieb, lag an zwei Dingen: Es setzte in großen Teilen auf eine Vorfertigung des Holzrahmenbaus, und es arbeitete eng mit den Bauherrinnen, dem Investor und vor allem mit lokalen Handwerksbetrieben zusammen, und zwar schon von Anfang an. So konnte das Team Produktions- und Bauprozesse schon in der Planungsphase genau kalkulieren, deren Ablauf zeitlich optimieren und die Logistik klein halten.
Statt die Gewerke nacheinander abzurufen, ließen die Architekten sie zeitlich leicht versetzt und in drei Bauabschnitten arbeiten. Ein Kran hob alle für den Ausbau nötigen Baustoffe und -teile in die Geschosse, bevor eine Brettstapeldecke das jeweilige Geschoss nach oben abschloss. Während der Rohbau in einem Bauabschnitt noch in die Höhe wuchs, begann beim anderen schon der Ausbau. Kruske erklärt: „Dieser rollende Bauablauf sorgte dafür, dass die kleinen Bauteams der lokalen Betriebe diese große Baustelle immer abdecken konnten. Außerdem ergaben sich so sehr kurze Kommunikationswege, denn es waren ja meist alle Gewerke gleichzeitig da.“ In nur neun Wochen stand der komplette Rohbau mit 2.533 m² Nutzfläche. Und schon neun Monate nach Baubeginn, im April 2019, konnte der Kita-Betrieb der „Stadtspatzen“ starten.
Die Architekten planten ein L-förmiges, dreigeschossiges Gebäude. Dessen kurze Seite verläuft 32 Meter entlang einer Hauptstraße. Hier platzieren die Architekten die öffentlicheren Funktionen, die frei vermietbaren Gewerberäume und die Cafeteria. Gleichzeitig dient der straßenseitige Baukörper als Lärm- und Sichtschutz für die Freiflächen der Kita dahinter. Der 53 m lange Schenkel des Ls begleitet eine ruhige Stichstraße. Hier liegen die Kita-Räume, und im obersten Geschoss an der Nordseite, der ruhigsten Stelle des Areals, finden sich die Wohngemeinschaften für die angehenden Erzieher und Erzieherinnen.
Ein planerischer Knackpunkt war die Verknüpfung, Trennung und Erschließung der verschiedenen Bereiche, die barrierefrei und unabhängig zueinander und trotzdem als Einheit funktionieren sollten. Dabei waren vor allem die sehr hohen Anforderungen an Schall- und Brandschutz eine Herausforderung. Kruske sagt: „Wir haben uns schon vor der Baugenehmigung mit den Brandschutzexperten zusammengesetzt, um den Brandschutz über den Grundriss zu optimieren und um andere Brandschutz-Maßnahmen dafür reduzieren zu können.“
Die Architekten teilten das Gebäude über die Länge in kleinere Nutzungs- und Brandschutzabschnitte. Sie platzierten mittig den Haupteingang mit zentralem Treppenhaus für Kita und Schule und ergänzten drei weitere Treppenhäuser und im obersten Geschoss zwei Dachterrassen zwischen den Einheiten. Zu diesem organisatorischen Brandschutz kommt der bauliche: Der brand- und schallschützende Aufbau aller Wandbauteile aus Holz und Mineralwolle ermöglicht, dass sich benachbarte Räume sehr unterschiedlich nutzen lassen. Die Architekten schaffen es so, dass sich im Bereich der Kita sogar Flure flexibel bespielen sowie Räume öffnen und miteinander verbinden lassen. Genau diese räumliche Flexibilität ist sehr essenziell für fast alle zeitgemäßen pädagogischen Konzepte.
Holz als nachwachsendes Baumaterial war aus ökologischen und pädagogischen Gründen gesetzt. Wichtig war den Architekten, dass Holz möglichst großflächig und, wo es geht, naturbelassen, also möglichst massiv und ohne Oberflächenbehandlung zum Einsatz kam. Die Konstruktion planten sie in einer Holzrahmenbauweise mit Brettschichtholzdecken, mit Treppenhäusern und Aufzugskernen aus Brettschichtholz, mit Treppen aus Massivholz sowie Fenstern und Türen aus Holz. Für die hinterlüftete Fassade wählten sie eine Bekleidung aus sibirischer Lärche.
In einem zweiten Auftrag für die Innenarchitektur der Einrichtung ergänzten die Architekten zahlreiche Podeste, Spielhäuser, Regale, Stühle und Tische – auch hier allesamt aus unbehandeltem oder geöltem Holz. Es entstand ein Gebäude, indem der Naturwerkstoff Holz überall haptisch und optisch erfahrbar ist und Teil einer frühkindlichen Lernentwicklung wird. Der erlebbare Holzbau mit teils unbehandelten und teils sichtbaren Holzbauteilen ist auch deshalb möglich, weil Mineralwolle als Fassaden- und Innenwanddämmung einen sicheren und durchgängigen Brandschutz und den für die Nutzungen notwendigen Schallschutz garantiert.
Die Außenwände ließen die Architekten zugunsten eines schnelleren, witterungsunabhängigen Bauprozesses fast komplett vorfertigen. Dabei wurden in einer regionalen Bauschreinerei Kanthölzer und OSB-Platten zugeschnitten und zu geschosshohen, 20 cm starken und einseitig geschlossenen Holzständerelementen verschraubt. Sie kamen dann mit offenem Gefach nach oben auf eine Werkebene. Üblicherweise werden im nächsten Schritt der Vorfertigung Dämmmatten aus Mineralwolle händisch zugeschnitten und eingelegt. Hier aber wurden die Gefache mit einer Einblasplatte abgedeckt, die flexiblen Flocken aus Mineralwolle mit viel Druck ins Gefach geblasen und dabei so verdichtet, dass sie, nachdem man die Einblasplatte entfernt hatte, bündig, luftdicht und wärmebrückenfrei mit dem Holzrahmen abschlossen. Mit diesem Einblasverfahren konnten die Hersteller das Produktionstempo weiter beschleunigen.
Auf den so gedämmten Holzrahmen kam außenseitig eine diffusionsoffene Beplankung aus Holzwerkstoff. Auf die mit OSB-Platten verkleidete Innenseite schraubte man 6 cm starke Profilhölzer als Unterkonstruktion für eine Vorsatzschale, in die die Handwerker auf der Baustelle flexibel Installationen und eine Dämmung aus Mineralwolle verlegten. Die Vorsatzschale erhielt innenseitig eine Verkleidung aus Gipskartonplatten. Dieser dreischalige und mit Mineralwolle gedämmte Aufbau der Holzrahmenelemente hat viele Vorteile: Er erreicht einen sehr hohen Schall- und Brandschutz bei gleichzeitig relativ schlanken, aber sehr tragfähigen Wandquerschnitten, vor die sich außenseitig jedes Fassadenmaterial und innenseitig Installationen leicht verlegen lassen.
Nicht alle Bauteile eigneten sich jedoch zur kompletten Vorfertigung. Bei den Innenwänden zum Beispiel sollten Leitungen und Installationen platzsparend direkt in der Dämmung der Gefache verlaufen. Da die verschiedenen Gewerke aber erst auf der Baustelle zusammenkamen, entschieden sich die Architekten für nur teilweise vorgefertigte, auf einer Seite beplankte Holzrahmenwände. Die Installationen und Dämmmatten aus Mineralwolle sowie die Beplankung der offenen Seite mit Gipskarton wurden deshalb direkt auf der Baustelle montiert.
Neben der kurzen Bauzeit beeindruckt vor allem der sorgsame Umgang mit den Ressourcen: Der Großteil der Bauteile aus Holz und Mineralwolle ist reversibel verbaut und lässt sich sortenrein rückbauen und recyceln. Allein die nachhaltige Gebäudekonstruktion aus Holz und hochdämmender Mineralwolle sorgt für einen sehr guten sommerlichen Hitze- und winterlichen Wärmeschutz. Ergänzt um alternative Energiequellen, wie eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach und eine Luft-Wasser-Wärmepumpe, liegt der errechnete Jahresprimärenergiebedarf bei nur 72 kWh/(m²a).
Heute zeichnen sich auf der Fassade die Spuren der Witterung ab, betonen das heterogene Fassadenbild aus verschieden stark vor- und rückspringenden Holzleisten, die in Edelstahl gefassten, giebelhausförmigen Fassadenreliefs, die unterschiedlich hoch platzierten und unterschiedlich großen Fenster für große und kleine Menschen und die bunten Fensterdekorationen, die vom Edelstahl der Laibungen gerahmt werden.